«Die Schweizer Bevölkerung spricht ungern über negative Gefühle»

    COVID-19 Pandemie, Krieg in der Ukraine und die sich anbahnende Energie-Krise: Die Schweizer Bevölkerung kämpft aktuell mit einer unsicheren Weltlage. Das hat Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Die Stiftung Pro Mente Sana ist eine wichtige Anlaufstelle rund um psychische Krankheit und Gesundheit. Geschäftsleiterin Muriel Langenberger gibt einen Einblick in das vielfältige Angebot der Dienstleistungen und Aktionen.

    (Bilder: zVg) Muriel Langenberger: Psychische Krisen sind weit verbreitet und entstehen nicht nur durch gesellschaftliche Herausforderungen.

    Die Stiftung Pro Mente Sana wurde 1978 im Interesse psychisch beeinträchtigter Menschen gegründet. Was sind die grossen Meilensteine der letzten 40 Jahre?
    Muriel Langenberger: Ein zentrales Anliegen seit der Gründung unserer Stiftung ist die Vertretung der Interessen und Rechte von psychisch erkrankten Menschen und deren Angehörigen. Dazu gehört die kostenlose Beratung zu psychosozialen und juristischen Fragen für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung, deren Angehörige und Nahestehende. Pro Mente Sana hat anfangs der Nullerjahre einen wesentlichen Beitrag zur Bekanntmachung der Recovery-Idee in der Schweiz geleistet. Das Recovery-Konzept wurde in angelsächsischen Ländern entwickelt und rückt die Genesung und die gesunden Seiten von psychisch erkrankten Personen in den Vordergrund. Im Zuge dieser Recovery-Bewegung war Pro Mente Sana federführend bei der Konzeption und Umsetzung der Peer-Ausbildung, das heisst bei der Ausbildung von Betroffenen ihr Erfahrungswissen anderen Betroffenen weitergeben zu können. Peers sind mittlerweile anerkannte «Fachpersonen», die in Kliniken und anderen Institutionen arbeiten. Gemeinsam mit einigen Kantonen hat die Pro Mente Sana 2014 die Kampagne «Wie geht’s dir?» ins Leben gerufen. Seit 2018 wird die Kampagne mit Unterstützung von Gesundheitsförderung Schweiz in der ganzen Deutschschweiz umgesetzt. 2019 holte die Stiftung Pro Mente Sana das australische Programm Mental Health First Aid in die Schweiz und baute unter dem Namen ensa ein breites und mittlerweile etabliertes Kursangebot auf. Rund 10’000 Schweizer Laien haben bisher in ensa Kursen gelernt, Erste Hilfe zu leisten, wenn Personen in ihrem privaten und beruflichen Umfeld psychische Probleme oder Krisen durchleben. Das Kursangebot wurde seither inhaltlich sowie sprachlich (Französisch, Italienisch, Englisch) ausgebaut.

    Wie geht es momentan der Schweizer Bevölkerung psychisch?
    Seit Pandemiebeginn berichten mehr Personen von erhöhter psychischer Belastung. Insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene weisen eine steigende Prävalenz psychischer Störungen auf. Bei Kindern und Jugendlichen haben Hospitalisierungen aufgrund eines mutmasslichen Suizidversuchs seit 2017 deutlich zugenommen – insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen. Ausserdem wurden soziale und gesundheitliche Ungleichheiten verstärkt. Besonders tangiert sind Personen aus niedrigen Einkommens- und Bildungsschichten, Personen mit psychischen Vorerkrankungen und alleinlebende und sozial isolierte Personen.

    Die neue Kampagne «Wie geht’s dir?» von Pro Mente Sana fordert auf, sich bewusst mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen.

    Frauen sind insgesamt öfter hoch oder sehr hoch psychisch belastet als Männer. Wie erklären Sie das?
    Frauen leiden häufiger an sogenannt internalisierenden Störungen wie Depressionen oder Angststörungen, während sogenannt externalisierende Störungen wie Substanzabhängigkeiten oder ADHS gehäuft bei Männern vorkommen. Es ist von einem komplexen Zusammenhang verschiedener Faktoren auszugehen. So gehen manche Erklärungsansätze etwa von einer gewissen Beteiligung von Hormonen, andere stärker von Persönlichkeitsmerkmalen oder gelernter Geschlechterrollen aus. Andere wiederum sehen, neben biologischen Faktoren, eine Häufung psychosozialer Stressoren sowie Auswirkungen struktureller Formen von Diskriminierung verantwortlich. Es gibt also nach wie vor nicht ausreichende Erklärungen für die unterschiedliche Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Frauen und Männern.

    Die psychische Belastung nimmt mit zunehmendem Alter stetig ab oder anders ausgedrückt die Generation Z ist am stärksten belastet. Wieso ist das so?
    Die Pandemie war für die psychische Gesundheit der jungen Generationen eine besondere Herausforderung. Die Unterversorgung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, welche bereits vor der Pandemie bestand, hat sich in der Krise noch verschärft. Erwachsenwerden ist mit herausfordernden Entwicklungsaufgaben verbunden: Ablösung von den Eltern, einen Platz in der Gesellschaft finden, einen Freundeskreis aufbauen, Zukunftspläne schmieden. Neben diesen sozialen Herausforderungen kommen vor allem in der Pubertät körperliche, kognitive, emotionale, aber auch neurobiologische Veränderung hinzu. Deshalb erstaunt es auch nicht, dass ¾ der psychischen Erkrankungen sich erstmals vor dem 25. Lebensjahr zeigen. Dies betrifft nicht nur die aktuelle Generation Z, sondern Jugendliche generell. Kommen dann noch äussere Faktoren, wie zum Beispiel die Coronakrise hinzu, sind Jugendliche mehrfach belastet. Im Vergleich zu älteren Menschen, hatten sie, aufgrund ihres Alters auch weniger Möglichkeiten positive Copingstrategien zu entwickeln, um Krisen zu meistern.

    Ihre Kampagne «wie-geht’s-dir.ch» bietet neben der «Wie geht’s dir?»-App ab September 2022 einen auf wissenschaftlicher Grundlage basierender Selbstcheck für psychische Gesundheit an. Welche Idee steckt hinter diese Kampagne?
    Die Kampagne «Wie geht’s dir?» zeigt auf, wie die psychische Gesundheit gefördert werden kann und will die Bevölkerung insbesondere dazu motivieren, über Gefühle zu sprechen, auch über Belastendes. Denn nur wenn offen darüber gesprochen werden kann, wird Hilfe und Unterstützung möglich.

    Wie funktioniert der Selbst-Check für psychische Gesundheit?
    Mit dem Selbst-Check kann man ohne viel Zeitaufwand herausfinden, wie es um die eigene psychische Gesundheit steht. Man braucht bloss fünf Fragen zur eigenen Gefühlslage in den letzten vier Wochen zu beantworten und erfährt, wo man steht, wie das eigene Stresslevel gerade ist und wie man seine psychische Gesundheit stärken und bewahren kann. Den Selbst-Check findet man auf der Website www.wie-gehts-dir.ch ebenso wie viele Tipps und Hilfeleistungen. Auch dazu, wie man Freundinnen, Freunde, Familie und Umfeld dabei unterstützen kann, die psychische Gesundheit zu stärken.

    «Bring deinen Vogel mit»: so lautete das Motto der ersten schweizweiten Mad Pride, die im Juni in Bern durchgeführt wurde. Was wollten Sie damit erreichen und welche Bilanz können Sie ziehen?
    Die Mad Pride will für psychische Gesundheit sensibilisieren und psychische Erkrankung entstigmatisieren. Sie steht für gesellschaftliche Vielfalt, Inklusion, und soziale Teilhabe. Sie soll dazu beitragen, negative Stereotypen psychischer Krankheiten aufzulösen und die Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen, dass uns psychische Krisen oder Erkrankungen alle irgendwann im Leben treffen können. An der ersten nationalen Mad Pride haben mehrere Tausend Betroffene, Angehörige, Fachpersonen und Interessierte an einem bunten Umzug durch die Berner Innenstadt und einer anschliessenden Veranstaltung auf dem Bundesplatz teilgenommen. Ein gelungener Auftakt für eine künftig jährlich stattfindende Mad Pride. Wir hoffen, dass sich jedes Mal mehr und mehr Leute für die Akzeptanz psychisch belasteter Menschen einsetzen.

    Wie sensibilisiert ist die Schweizer Bevölkerung bezüglich der psychischen Gesundheit?
    Die Bevölkerung in der Schweiz spricht ungern über negative Gefühle, dementsprechend ist die Tabuisierung von psychischen Schwierigkeiten weiterhin problematisch. Nebst der Stigmatisierung durch die Gesellschaft ist auch das Selbststigma vorhanden – «das kann mir doch nicht passieren, ich habe mein Leben schliesslich im Griff».

    Die aktuelle Weltsituation mit Corona, Ukraine-Krise, Energiekrise und Inflation lösen teilweise grosse Ängste aus. Wie kann man solche belastenden Lebensumstände und Krisen psychisch besser bewältigen?
    Tatsächlich stellen Unsicherheit und Fremdbestimmtheit eine grosse Belastung für die psychische Gesundheit dar. Als Schutzfaktoren für psychische Gesundheit gelten allgemein eine hohe Selbstwirksamkeit und Kontrollüberzeugung, also das Wissen und die Erfahrung, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft bewältigen und die Gewissheit, das eigene Leben mehrheitlich selbst bestimmen zu können. Wichtig und hilfreich sind aber auch eine starke soziale Unterstützung durch Freunde und Familie, eigene Projekte oder Hobbys sowie positives Denken.

    Psychiatrische und ärztliche Einrichtungen sind überlastet. Wie gut gerüstet ist die Schweiz, künftige Krisen psychisch durchzustehen?
    Es geht nicht nur darum, zukünftige Krisen besser meistern zu können, sondern auch in Gesundheitsförderung und Prävention zu investieren, damit es gar nicht so weit kommt. Psychische Krisen sind weit verbreitet und entstehen nicht nur durch gesellschaftliche Herausforderungen. Deshalb ist es wichtig bereits im Kindesalter anzusetzen, Kinder für psychische Gesundheit zu sensibilisieren und sie in ihrer Widerstandskraft (Resilienz) und Selbstwirksamkeit zu stärken. Kinder sollten früh lernen, ihre Gefühle bewusst wahrzunehmen und darüber zu reden. Wenn sie im Umgang mit schwierigen Situationen unterstützt werden und ihre Fähigkeit Emotionen zu äussern gefördert wird, kann ihnen das helfen, die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Wichtig wäre es meines Erachtens gemeindezentrierte Strukturen zu schaffen, Home Treatment-Angebote zu erweitern und generell niederschwellige Angebote zu fördern, bei denen sich betroffene Menschen frühzeitig und qualifiziert Unterstützung holen können.

    Welche Projekte hat pro Mente Sana für die nächste Zeit?
    Wir möchten bestehende Angebote ausbauen, Wissen konsolidieren und weiterverbreiten. Beispielsweise sollen die ensa Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit sowie die «Recovery Wege entdecken»-Seminare ausgebaut und schweizweit angeboten werden. Ausserdem planen wir im Raum Zürich eine Recovery Akademie zur Förderung der Integration von psychisch belasteten Menschen in den ersten Arbeitsmarkt. Mit dem Projekt inCLOUsiv möchten wir eine virtuelle Community zur Stärkung der psychischen Gesundheit und Förderung von Mitsprache und Vernetzung aufbauen. Ausserdem unterstützen wir das Projekt SERO (Suizidprävention Einheitlich Regional Organisiert) der Luzerner Psychiatrie und Gesundheitsförderung Schweiz, welches eine neue App zum Selbstmanagement bei Suizidgedanken beinhaltet.

    Interview: Corinne Remund

    www.promentesana.ch

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